Von den Bildwelten über die Klangwelten zu den Gegenwelten



Der Rückschau Haltende sieht die Vergangenheit mit heutigen Augen, deshalb kann er für diese nur wenig Verständnis entwickeln. Wem es dagegen gelingt, sich ins Vergangene einzufühlen, dem wird die Gegenwart fremd.

Eine mit großer Ernsthaftigkeit untersetzte Familienpolitik verfolgt heute das Ziel, der Jugend Perspektive zu bieten. So wohlmeinend der Vorsatz sein mag, so falsch, ja so gefährlich ist er. Perspektive, so lautet eine wichtige, aus der Tiefe der Geschichte zu ziehende Lehre, Perspektive darf niemals diktiert, Perspektive muss von jeder und jedem selbst erkannt und erschlossen werden.

Die Generation derer, die, wie Max Manfred Queißer, 1927 geboren sind, hatte ihre Perspektive mit viel Pomp und Gloria verordnet bekommen, und diese Perspektive hieß: Heldentod. Im Jahr 1944 war Manfred siebzehn Jahre alt und Hitlers Krieg in vollem Gange. Siebzehn: in so zartem Alter geraten nicht nur die Mädchen schnell in allerlei Hoffnung, auch junge Männer sind nur allzu leicht bereit, sich missbrauchen zu lassen. Dass Manfred nicht zur SS eingezogen wurde, war allein der Tatsache geschuldet, dass er als Mitglied der seemännischen Bevölkerung ein Anrecht hatte, zur Marine zu kommen. So blieben ihm manche Gräuel und auch eilfertiges Vergessen erspart. Nicht erspart blieb ihm die sowjetische Kriegsgefangenschaft. Manfred Queißer sprach von „gestohlenen Jahren“. Heimgekehrt, wollte er malen. Malen ist ein Weg, das Sehen zu lernen. Und dem Sehenden öffnen sich Perspektiven.

Es waren anfangs die Maler des französischen Impressionismus, die ihn – bis zuletzt – bewegten. Die in Farbe gegossene lichtvolle Lebensfreude, etwa eines Renoir oder eines Monet, so stelle ich mir vor, wirkte mit doppelter Wucht auf eine von Krieg und Gefangenschaft gezeichnete, aber empfindsam gebliebene junge Seele.

So erwarb sich Manfred seit etwa 1955 – mit knapp dreißig Jahren – autodidaktisch und mit Hilfe zahlreicher befreundeter Künstler, erste Fertigkeiten in der Malerei. Die Ateliers der befreundeten Maler dienten ihm als Akademien. Einige dieser ganz frühen Bilder zeigen die Sehnsucht nach einem damals unerreichbar fernen Leben fast deutlicher, als den Maler selbst; das „Junge Paar“ oder auch der „Liegende Akt“ bedürfen hier keiner weiteren Erklärungen.

Von einem poetischen Leben kann für den Maler bis zu ­diesem Zeitpunkt trotz allem keine Rede sein. Dennoch malte er sich seine Träume von der Seele, wie in den Bildern „Mondspaziergang“, „Visionen der Ferne“ oder auch im „Winterspaziergang“.

In diesen noch sehr bedrückenden Nachkriegsjahren war das Malen für Max Manfred Queißer – neben der Wiederaufnahme der Ausbildung – ein Lebensvorgang, so wichtig wie das Atmen, wie es auch die Bilder „Lampionfest“, „Undine als Harlekin“ und „Vor dem Auftritt“ zeigen.

Die einmal erwachte Liebe zur Kunst blieb ihm erhalten, blieb bestehen, prägte ihn; wenngleich das Leben die Weichen zunächst anders stellte und ihn wissenschaftlich forderte, „der Pinsel lag immer in Reichweite“. Dem Studium in Leipzig folgten die Promotion und Habilitation in Dresden und eine mehr als zwanzig Jahre währende wissenschaftliche Karriere als Kultursoziologe. Als Mitglied des redaktionellen Beirates der Fachzeitschrift für Industrielle Formgestaltung FORM+ZWECK, als Initiator für die Wiederbelebung des BAUHAUS-Gedankens und in konstruktiver Zusammenarbeit mit der Genossenschaft Bildender Künstler KUNST AM BAU Dresden blieb Max Manfred Queißer über ein langes Berufsleben der Kunst dennoch eng verbunden und seine Theorie stets „praxisnah“. Mit Friedrich Kracht und Karl-Heinz Adler verband ihn eine lebenslange Freundschaft. So pausierte er, ohne Pause zu machen.

Die Flut der Bilder, das haben wir gelernt, lässt sich – wie die Flut des Lebens selbst – mit noch so hohen Mauern nicht aufhalten. Um die Bilderflut zu bewältigen, bedarf es der Abstraktion. „Das ist die Aufgabe der Kunst“, sagte Manfred Queißer. Diese Aufgabe hatte er sich nun selbst gestellt, als nach 1990 mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen neue Themen in den Vordergrund drängten.

Gemäß des Zitates von Alexis Carrel „Es kommt nicht darauf an, dem Leben mehr Jahre zu geben, sondern den Jahren mehr Leben“ tauchte Max Manfred in diesem zweiten Leben ein in seine, im Inneren der Seele vorhandenen Bildwelten. Er variierte mit Farben über die Stadt, die Landschaften und den Menschen.

Über das aktive Musizieren auf der Geige, von Jugend an, mit besonderer Hinwendung zur klassischen Musik, nimmt sich das konkret Sichtbare in seinen Bildern zunehmend zurück, zugunsten einer Affinität zur Musik – „Musette“ stellt eine eigene Reminiszenz an Paris dar, „Improvisation am Cello“ die Emotion und Faszination nach einem Konzert, „Blues“ ein Hörerlebnis, „Pester Karneval“ eine Hommage an Franz Liszt, „Die Geburt des Liedes“ bietet Vogeldarstellungen, „denn die ersten Lieder überhaupt wurden von Vögeln gesungen“ (Zitat Queißer) – unversehens geraten Aug’ und Hand des Malers zum Kaleidoskop, Töne, Farben und Linien aufnehmend, vermischend und zu neuen Bildern in stets sich erneuernder Farbkraft fügend. Wer ganz still ist, kann die Musik in den Bildern hören.

Die sich für Queißer mit „dem Sprung in die Freiheit“ erfüllenden Träume folgen in berührend leidenschaftlicher Weise dem Erzählstil des Maler-Poeten Marc Chagall. Im Weiteren suchte und fand Max Manfred in den „Gegenwelten“ den ihm gemäßen Ausdruck in der scheinbar willkürlichen, nur der Notwendigkeit des Augenblicks unterworfenen Form, die sich allein in Farben ausdrückt. Max Manfred Queißer malte, wie Karin Weber bemerkte, „spontan und konzentriert“, was normalerweise gar nicht geht. Konzentration – der Name sagt es – braucht ein Zentrum, ein Ziel; Spontanität braucht Freiheit. Dennoch findet sich tatsächlich beides in seinen Bildern wieder: Die Spontanität in der Konzeption und im Bildaufbau, die sich bis zum letzten Pinselstrich entwickelt, ist gepaart mit höchster Konzentration in der Umsetzung, unter konsequentem Einsatz der malerischen Mittel. Seine Bilder lassen uns immer wieder staunen, wie viel Heiterkeit und „Größe“ dabei entstehen kann. „Kunst ist auf der untersten Stufe einfache Naturnachahmung. Aber bald ist sie Nachahmung im erweiterten Sinne des Begriffs, also nicht bloß Nachahmung der äußeren, sondern auch der inneren Natur. Mit anderen Worten: sie stellt dann nicht bloß die Gegenstände oder Anlässe dar, die Eindruck machen, sondern vor allem den Eindruck selbst...,“ so Arnold Schönberg 1911 in seiner „Harmonielehre“.

Nicht der Gegenstand, sondern seine Wirkung steht im Mittelpunkt darstellerischen Interesses des Künstlers, nicht das „Was“, sondern das „Wie“. Damit wird Kunst zu einem höchst subjektiven Vorgang: Der Künstler stellt dar, was er sieht und vor allem, wie er sieht.

Vom Gegenstand ausgehend, auf Naturnachahmung fußend und um ihre Eindrücklichkeit wissend, begann Max Manfred Queißer mit gegenständlich orientierten „Bildwelten“. Dabei scheute er sich keineswegs, andere Maler zu zitieren: Die Auseinandersetzung mit fremden Malweisen schärfte die eigenen Fähigkeiten und schaffte zugleich Nähe zur Tradition.

„Jedes Bild“, sagte der Künstler, „entsteht zweimal, einmal dadurch, dass es gemalt wird, und dann erneut im Auge des Betrachters.“ Der Weg von den Bildwelten zu den Gegenwelten bot ständig sich verändernde Perspektiven. Es war ein Weg, auf dem Max Manfred Queißer zu sehen begann und der nun zu Ende gegangen ist. Nach dem er schon nicht mehr daran geglaubt hatte, Paris, Venedig und weitere ferne Welten erleben zu dürfen, so konnte er doch mit knapp 90 Jahren auf ein erfülltes, wenngleich auch wechselvolles Leben zurückschauen.



Thomas Gerlach